[20.05.1999]
Viele Unternehmen neigen dazu, der externen Komplexität mit einer internen Komplexität zu begegnen. Die Folge: den internen Zusatzkosten stehen keine Zusatzerlöse gegenüber. Oberstes Ziel bei der Reduzierung der Komplexität eines Unternehmens sollte es daher sein, die erforderliche Komplexität so zu wählen, dass das daraus resultierende Kostenniveau und Marktpotential den Ertrag des Unternehmens maximiert. Die externen Komplexitätstreiber wie die Globalisierung und Dynamik der Märkte, die sich daraus ergebenden Nachfrageänderungen, die Kundenzahl sowie die Sortimentsgröße und -tiefe drücken sich in der Anzahl und Änderungshäufigkeit der Varianten einzelner Leistungen aus. Unterschiedliche Ursachen, wie z. B. Kundenorientierung, Aufbau von Markteintrittsbarrieren, quantitatives und qualitatives Wachstum, führen in der Beschaffung zu einer Güter- und Prozessvielfalt. Die Komplexität in der Beschaffung äußert sich in der Ausprägung von Komplexitätstreibern. Sie führen zu zusätzlichen Kosten entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Wesentlicher Komplexitätstreiber ist die Vielfalt, etwa bei Teilen und Material, bei Lieferanten und Prozessen usw. Ausgehend von den Gesamtkosten eines Unternehmens zeigt sich in der Praxis immer wieder, dass die Komplexitätskosten eines Unternehmens 15 bis 20% der Gesamtkosten ausmachen. Zur Messung des Vielfaltsniveaus in der Beschaffung können zwei wesentliche Analyseinstrumente herangezogen werden: die Beschaffungsobjektvielfaltanalyse und die Beschaffungsprozessvielfaltsanalyse.
Bei der Messung der Beschaffungskomplexität kann auf Basis einer kombinierten Analyse des Beschaffungsvolumens pro Material- oder Funktionsgruppen mit der Anzahl der Lieferanten, der Anzahl der aktiven Artikelnummern und der Anzahl der passiven Artikelnummern die beschaffungsobjektbezogene Vielfalt charakterisiert werden. Häufig ergeben sich Ungleichgewichte zwischen dem Anteil des Beschaffungsvolumens einer Materialgruppe an dem gesamten Beschaffungsvolumen und den hierfür aktiven Lieferanten. Hieraus können erste Ansatzpunkte zur Lieferantenkonzentration abgeleitet werden, wie auch aus dem Vergleich der Anzahl der unterscheidbaren aktiven Artikel innerhalb einer Materialgruppe im Verhältnis zu der Anzahl der Lieferanten. Die Abbildung 3 zeigt exemplarisch, wie durch eine kombinierte Analyse der Beschaffungskomplexität, die Teile- und Objektvielfalt in der Beschaffung gemessen werden kann. Erweitert um eine ABC-Klassifizierung innerhalb des jeweiligen Betrachtungsgegenstandes kann diese Analyse wesentliche Komplexitätstreiber identifizieren und Ansatzpunkte zur Komplexitätsreduzierung liefern. Darüber hinaus kann in einer erweiterten Betrachtung die Beschaffungskomplexität anhand verschiedener Kennzahlen gemessen werden. Die Anzahl unterschiedlicher Material- und Funktionsgruppen ist vor dem Hintergrund des Produktspektrums und der Variantenvielfalt im Endprodukt zu interpretieren. Bei Handelsunternehmen schlägt die Vielfalt des Produktsortiments direkt auf die Vielfalt der Beschaffung durch. In der Automobil- und Zulieferindustrie hängt die Beschaffungsobjektvielfalt von dem Grad der Nutzung von Plattformstrategien zur Verringerung der Teile und Materialvielfalt oder dem Grad der Modul- oder Systembildung ab. Zur Charakterisierung der Komplexität können Kennzahlen wie z. B. Anzahl unterschiedlicher Beschaffungsobjekte, Normteilquote und Standardisierungsgrad herangezogen werden. Insbesondere die in einem Unternehmen zum Zeitpunkt der Analyse vorliegende Klassifizierung des zu beschaffenden Güterspektrums ist im Zusammenhang mit der Ableitung differenzierter Beschaffungsstrategien zu überprüfen. Dabei sollten die Beschaffungsgüter in Materialgruppen segmentiert werden, wobei die daraus gegeneinander abzugrenzenden Materialgruppen in sich homogen, bezogen auf die Komplexität der Beschaffungsaufgabe, sein sollten. Eine Segmentierung des Beschaffungsgüterspektrums in Materialgruppen kann auch den Ausgangspunkt für eine Neuorganisation des Einkaufs bilden. Aus der Vielfalt der Lieferanten, der Beschaffungsobjekte und der internen Kunden-Lieferanten-Verhältnisse resultiert eine Vielfalt an Beschaffungsprozessen, deren Komplexität mit Hilfe der Beschaffungsprozessanalyse gemessen werden kann.
Die Beschaffungsprozessanalyse dient der Erfassung des Beziehungsgeflechts und Kostengerüstes der Komplexitätskosten der Beschaffungsgüter, welche bei der Bereitstellung der Güter in der logistischen Kette zwischen Lieferant und Verbrauchs- oder Verbauort im Unternehmen entstehen. Durch die Beschaffungsprozessanalyse wird der Zusammenhang zwischen Einkaufspreis einerseits und Total Cost of Ownership andererseits transparent. Die Komplexitätsbeurteilung aufgrund von Prozessketten basiert auf der Erfassung der den Prozess gestaltenden Aktivitäten. Dabei ist vor Beginn der Untersuchung die Frage zu beantworten, welche Prozesse analysiert werden sollen und wo die ausgewählten Prozesse ihren Anfangs- bzw. Endpunkt besitzen. Die Analyse der Prozesse sollte sich zunächst auf diejenigen Prozesse konzentrieren, die bei der Bereitstellung der A-Materialien durchlaufen werden. Für die B- und C-Güter sollte ein typischer Prozess ausgewählt werden, der stellvertretend für die anderen Prozessvarianten die grundsätzlichen Probleme beinhaltet. Die eigentliche Prozessanalyse besteht in der Ermittlung und Zusammenstellung aller Aktivitäten und der beteiligten Schnittstellen des Beschaffungsprozesses. Die Abschätzung der Bearbeitungs- und Durchlaufzeit pro Aktivität, der genutzten Informationsmittel, der Komplexitätsursachen sowie der Schwachstellen runden die Analyse ab. Mit der Bestimmung des Standardisierungspotentials werden die Gestaltungsparameter des Material- und Informationsflusses des Beschaffungsprozesses definiert, die dann die Basis für eine weitere differenzierte Ausgestaltung der Abnehmer-Lieferanten-Beziehung in den übrigen Gestaltungsfeldern bilden. Die Auswirkungen der Prozessänderungen auf die Zielgrößen der Materialbereitstellung wie Zeit, Kosten, Qualität und Flexibilität sind zu überprüfen. Eine prozessbezogene Vielfaltsanalyse ermöglicht das Aufzeigen der prozessbezogenen Komplexitätsursachen in Materialflussprozessen, Informationsflussprozessen und gekoppelten Prozessen in der Beschaffung. Auf dieser Basis kann eine Optimierung der Komplexität in der Beschaffung eingeleitet werden.
Zur Reduzierung der Komplexität in der Beschaffung können verschiedene Ansätze verfolgt werden, die abhängig von dem Produkt des Unternehmens, der Stellung des Unternehmens in der Wertschöpfungskette, dem Reifegrad im Lebenszyklus des Produkts, der Größe des Unternehmens oder der Innovationsdynamik des Produkts eine unterschiedliche Bedeutung für ein Unternehmen besitzen. Ausgehend von den Stoßrichtungen des Variantenmanagements Komplexität vermeiden, Komplexität reduzieren und Komplexität beherrschen lassen sich die nachfolgend dargestellten Ansätze den Stoßrichtungen des Variantenmanagements zuordnen. Häufig lassen sich Ansätze nur in Kombination mit anderen Ansätzen realisieren, wobei bestehende Ansätze zum Variantenmanagement im Unternehmen mit berücksichtigt werden müssen. Die Modul- und Systembeschaffung kann beispielsweise ohne eine vertragliche Absicherung durch Lebenszyklus- und Rahmenverträge nicht umgesetzt werden. Die Mehrfachverwendung von Teilen oder Rohstoffen ist eng gekoppelt an die Möglichkeiten der Substitution oder an die Möglichkeit der Standardisierung oder Normung von Materialien. Die Wirkungsrichtungen der vorliegenden Ansätze auf die Komplexität in der Beschaffung sind unterschiedlich ausgeprägt. Die Substitution wirkt in diesem Zusammenhang auf die Reduzierung der Anzahl zu unterscheidender Materialien, was neben der Reduzierung der Komplexität in der Planung, Steuerung und Disposition sowie der Logistik auch aus der Beschaffungssicht noch Bündelungseffekte von Einkaufsvolumina zur Folge haben kann. In die gleiche Richtung zielen die Ansätze der Standardisierung oder Normung von Bauteilen oder die Mehrfachverwendbarkeit von Bauteilen. Bei der Lieferantenkonzentration treten zum einen Bündelungseffekte bei den verbleibenden Lieferanten auf, die Anzahl der zu unterscheidenden Beschaffungsprozesse wird reduziert, die abgewickelten Volumina pro Beschaffungsprozessalternative steigen, so dass dies auch eine Reduzierung der internen Prozesskosten nach sich zieht und nicht zuletzt der im Einkauf anfallende Aufwand für Lieferantenpflege, Auswahl und Kontrolle reduziert wird. Die Modul- und Systembeschaffung führt dazu, dass im Abnehmer-Unternehmen eine wesentlich geringere Anzahl unterschiedlicher Teile und Materialien koordiniert werden muss, die logistische Zusammenführung der einzelnen Elemente der Module und Systeme übernimmt der Lieferant. Daraus resultiert eine wesentliche Reduzierung der Teile- und Prozessvielfalt in der Beschaffung. Plattformstrategien, wie sie insbesondere in der Automobilindustrie und Luftfahrtindustrie umgesetzt werden, verfolgen im Grunde eine Komplexitätsreduzierung nach dem Baukastenprinzip: Aus einer möglichst geringen Anzahl unterschiedlicher Bauteile die vom Markt geforderte Vielfalt an Endprodukten zu generieren. Für die Beschaffung resultieren daraus ähnliche Konsequenzen wie bei der Modul- oder Systembeschaffung. Die Optimierung der Leistungstiefe beeinflusst unmittelbar das zu beschaffende Güterspektrum und damit auch die Vielfalt der Ausprägungen und die Komplexität der Beschaffungsaufgabe innerhalb von Abnehmer-Lieferanten-Beziehungen. Bei der Verbundbeschaffung ist der zentrale Ansatz, Beschaffungsvolumina zu bündeln, um so Skaleneffekte beim Lieferanten und Abnehmer zu erzielen. Daraus resultiert im Wesentlichen eine verringerte Beschaffungsprozesskomplexität, da eine zentrale Beschaffungsstelle die Interessen aller beteiligten Bedarfsträger koordiniert. Durch differenzierte Vertragsgestaltung kann die Beschaffungsprozesskomplexität reduziert werden, beispielsweise durch das vereinfachte Abrufen von Materialien aus Rahmenverträgen. Die Verlagerung und Übertragung von Logistikleistungen auf den Lieferanten, wie Qualitätssicherung, Verpackungs- und Kommissionierumfänge, Preisauszeichnungen bis hin zur produktionssynchronen Anlieferung beim Abnehmer am Verbrauchsort, reduziert im erheblichen Umfang die Beschaffungsprozesskomplexität aus der Sicht des Abnehmers. Aus der Sicht des Lieferanten eröffnen diese zusätzlichen Logistikleistungen ein Differenzierungspotential gegenüber Wettbewerbern und ermöglichen ein Zusatzgeschäft. Die organisatorische Trennung von strategischen und operativen Aufgaben ermöglicht vielfach eine strategische Ausrichtung und differenzierte Ableitung von Beschaffungsstrategien und bildet somit die Basis für die Umsetzung aller weiterführenden Konzepte zur Optimierung der Beschaffungsfunktion in einem Unternehmen. Die Dezentralisierung operativer Einkaufsaktivitäten an die Wertschöpfungsprozesse ist eng verknüpft mit dem Ansatz der Modularisierung von Organisationseinheiten, die in mehreren Dimensionen eine erhebliche Reduzierung der Unternehmenskomplexität bewirkt. Die Wahrnehmung der Beschaffungsaktivitäten aus einem Buying-Center heraus, stellt eine mögliche organisatorische Alternative zur Vorverlagerung von Beschaffungsaktivitäten durch eine interdisziplinäre Besetzung des Buying-Centers dar. Wie aus der vorangegangenen Wirkungsanalyse der verschiedenen Ansätze auf die Komplexität in der Beschaffung deutlich wurde, lassen sich Komplexitätseffekte fast immer auf die Objekt- und Teilevielfalt oder die Beschaffungsprozessvielfalt zurückführen. Dies unterstreicht die Bedeutung der Beschaffungsobjekt- und Beschaffungsprozessanalyse im Zusammenhang mit der Messung der Komplexität und dem Aufzeigen von Ansatzpunkten zur Realisierung von Einsparpotentialen durch die Reduzierung der durch die Komplexität induzierten Kosten oder der direkten Verringerung der Komplexitätskosten im Beschaffungsprozess.
Quelle: LOGISTK HEUTE, Heft 4/1999, S.64, Univ.-Prof. Dr. Dr. H. Wildemann