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Logistik- und Einkaufstrends im europäischen Markt

[01.10.1999]

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Obwohl sich die Unternehmenspraxis in den vergangenen Jahren mehr denn je mit den Fragestellungen in der Logistik und im Einkauf intensiv auseinandergesetzt hat, ist ihre Aktualität ungebrochen. Im Gegenteil: Sowohl die steigenden Kunden- und Wettbewerbsanforderungen als auch die Dynamik des technischen Fortschritts deuten darauf hin, dass diesen Bereichen auch zukünftig eine strategische Schlüsselposition für den Unternehmenserfolg zukommt.

In den meisten Industriezweigen sind tiefgreifende Veränderungen im Markt- und Kundenverhalten zu beobachten. Der Wandel vom friedlichen Wachstumswettbewerb zum kriegerischen Verdrängungswettbewerb äußert sich in Überkapazitäten, einer schnelleren internationalen Angleichung von Produkt- und Prozessqualitäten, verkürzten Innovationszyklen, einer hohen Markttransparenz und in einer steigenden Individualisierung der Kundenwünsche. Angesichts dieses Wettbewerbsszenarios wird das logistische Leistungsvermögen von Unternehmen zu einem kritischen Differenzierungsfaktor, der die in der Vergangenheit dominierenden Wett­bewerbs­dimensionen Produktqualität und Preis relativiert. Kunden und Wettbewerber fordern in preis- aber auch in qualitätssensitiven Marktsegmenten kurze Lieferzeiten sowie eine hohe Lieferqualität und Termintreue. Flexibilität und Lieferbereitschaft lassen sich aufgrund der wachsenden Variantenvielfalt und bei schwankendem Nachfrageverhalten nicht durch den Aufbau von Lagerbeständen erreichen, sondern müssen durch eine kundennahe Produktion und Zulieferung mit kurzen Durchlauf- und Wiederbeschaffungszeiten sichergestellt werden. Dem hohen Stellenwert der Produkt­einführungs­zeiten kann ohne einen schnellen und zuverlässigen Material- und Informationsfluß nicht entsprochen werden. Es zeichnet sich infolge zunehmender Know-how-Konzentration eine Verringerung der Leistungstiefe ab. Die Unternehmen fokussieren ihre Aktivitäten auf Wertschöpfungsprozesse, die eine hohe Attraktivität und relative Kompetenz aufweisen. Hierdurch sollen Kosten und Risiken der Produktion und Entwicklung begrenzt sowie Logistik- und Transaktionskosten optimiert werden. Mit der Verringerung der Leistungstiefe steigt die Arbeitsteilung, da ein gemessen an der Gesamtleistung anwachsender Zukaufanteil mit einer Erhöhung der Logistikkomplexität verbunden ist. Damit ergibt sich die Notwendigkeit zu einer substantiellen Neustrukturierung der Leistungsbeziehungen zwischen Lieferanten und Abnehmern, die dazu führt, dass die Wertschöpfungsketten von Lieferanten und Vorlieferanten intensiver in die logistische Kontrollspanne der Abnehmer eingebunden werden. Parallel zu der Verringerung der Leistungstiefe ist ein fortschreitender Trend zur Globalisierung von Unternehmensaktivitäten festzustellen. Kennzeichnend hierfür ist neben einem stark wandelnden europäischen Handel, die Internationalisierung der Beschaffungsmärkte und der Aufbau multinationaler Produktions­verbund­systeme. Das Ziel besteht darin, regionale Kosten- und Infrastrukturvorteile zu nutzen und gleichzeitig eine europaweite Versorgung und Wettbewerbspräsenz zu gewährleisten. Die Aufgabe der Logistik besteht in der Gestaltung und Koordination eines europaweiten Netzwerkes von Material- und Informationsflüssen.

Aus der Zunahme der Arbeitsteilung erwächst gleichsam die Bedeutung des Einkaufs für den Unternehmenserfolg der Abnehmer. Der Übergang zur Systembeschaffung oder zu Vollsortimenten erfordert für die Abnehmerunternehmen eine frühzeitige Einbindung der Lieferanten in den Produktentstehungsprozess. Über beispielsweise Direktvergaben oder Konzeptwettbewerbe werden in einer frühen Phase der Entwicklung Lieferanten-Abnehmer-Beziehungen aufgebaut. Daraus resultieren neue Zusammenarbeits- und Vertragsformen zwischen Lieferanten und Abnehmern. Die Lieferanten übernehmen zusätzliche Koordinationsaufgaben bei der Wertgestaltung des Produktes bis zur Markteinführung, teilweise darüber hinaus bis zum Produktauslauf. Die Bündelung der Ressourcen auf der Seite der Abnehmer ist begleitet von der Vorverlagerung von Einkaufsaktivitäten in den Produktenstehungsprozess. Auf der Seite der Lieferanten wird durch die Bildung von Zuliefernetzwerken eine Ressourcenbündelung erreicht, die das Erbringen des gestiegenen Wertschöpfungsanteils am Gesamtprodukt ermöglichen.

Die Optimierung von Lieferanten-Abnehmer-Beziehungen ist dabei für die Unternehmen von einem strategischen Dilemma gekennzeichnet: Steigende Anteile der Zukaufanteile und die zunehmende kundenindividuelle Gestaltung der Endprodukte führen zu einer Erhöhung des wertmäßigen Beschaffungsvolumens, zu einer Erhöhung des logistischen Steuerungsaufwandes und damit zu einer Steigerung der technologischen Komplexität der zur Leistungserstellung benötigten Inputfaktoren. Im Zuge der Liberalisierung und Deregulierung des europäischen Handels hat sich die Lieferantenstruktur in vielen Branchen nachhaltig verändert und internationalisiert. Die Einführung des Euros wird die Globalisierung noch weiter vorantreiben.

Gleichzeitig sorgen neue Informationstechnologien dafür, dass Entfernungen leichter überwunden und der Datenaustausch unkomplizierter erfolgen kann. Obwohl der gestiegene Konkurrenzkampf auf den Beschaffungsmärkten tendenziell die Verhandlungsposition des Einkäufers stärkt, ist der Entscheidungsspielraum des Einkäufers immer häufiger eingeengt. Die gestiegene internationale Arbeitsteilung, die Dynamik der technologischen Entwicklung und die Reduzierung der Produktlebenszyklen führten zu einer verminderten Transparenz auf den Beschaffungsmärkten. Eine weitere Ursache ist in einer veränderten Vertriebsstrategie der Lieferanten zu suchen. Know-how-starke Lieferanten versuchen, durch Spezialisierung und Konzentration auf ausgewählte Segmente ihre Austauschbarkeit zu reduzieren und den Status eines Alleinlieferanten zu erwerben. Als Ergebnis stehen dem Einkäufer oftmals nur wenige Lieferanten zur Befriedigung seines Bedarfes an know-how-kritischen Kaufteilen zur Verfügung. Diese Veränderungen führen zu einem Anstieg der Komplexität von Einkaufsaufgaben. Der Einkauf ist nicht mehr nur der ‘Beschaffer von Teilen‘, sondern als der ‘Beschaffer komplexer Problemlösungen‘ anzusehen. Während er früher als Dienstleister für die übrigen Funktionsbereiche hauptsächlich Preis- und Mengenverhandlungen durchführte und vertragliche Regelungen mit den Lieferanten abschloß, hat der Einkauf heute als Technologiedrehscheibe dafür zu sorgen, dass Innovationen aus den Beschaffungsmärkten in das Unternehmen transferiert werden. Der Einkauf wird dadurch zum Mitgestalter strategischer Unternehmensaufgaben. Er übernimmt die Aufgabe eines Geschäftsbeziehungsmanagers. So nimmt er durch die Integration einzelner Kaufteile zu Modulen oder Systemen und durch die Auswahl geeigneter Lieferanten aktiv Einfluss auf Entscheidungsprozesse in den Bereichen Forschung und Entwicklung, Logistik, Qualitätssicherung sowie Produktion und Montage. Auch obliegt dem Einkauf unter Berücksichtigung von Lieferantenangeboten und Benchmark-Vergleichswerten Preise für eine innerbetriebliche Sparte festzulegen, mit der innerbetriebliche Leistungen verrechnet werden. Der Einkauf erlangt damit einen wesentlichen Einfluss auf die Produktergebnisse und trägt wesentlich zur Entscheidungsbildung bei Fragestellungen zur Leistungstiefenoptimierung bei.

Der Autor Univ.-Prof. Dr. Dr. Horst Wildemann ist Dekan an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der TU München und erarbeitet in seinem Transfer Institut (TCW) zukunftsweisende Lösungen zu Fragen der Logistik und zu Einkaufspotentialanalysen für die Praxis.

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