[02.03.2000]
Welche Megatrends werden in den kommenden Jahren die Entwicklung in der gesamten Logistikkette maßgeblich beeinflussen?
Horst Wildemann: Drei Trends stehen aus meiner Sicht im Vordergrund. Das Ersetzen der Bestände durch Informationen wird in Zukunft das gesamte Supply Chain Management maßgeblich beeinflussen.
Im Weiteren wird die Globalisierung einen nachhaltigen Einfluss auf die logistische Kette ausüben. Globalisierung definiert als Faktum, dass diejenigen die in einem gemeinsamen Markt tätig sind, auch teilhaben wollen an der Wertschöpfung. Diese Wertschöpfung wiederum wird beeinflusst durch die Kostendifferenzen. Ein Kostenfaktor von 1 : 10, zum Beispiel, kann durch kein noch so effizientes Logistiksystem ausgeglichen werden. Unternehmen, die wachsen wollen, müssen in allen wichtigen Märkten präsent sein, dies bedeutet vermehrt Produktion vor Ort. Die Logistikströme werden in Zukunft aufgrund des Kostenarguments und der verstärkten Ausschöpfung des Marktpotentials in einer globalen Welt weiter zunehmen.
Als dritten Trend möchte ich die Verlagerung der Güterströme auf die Strasse erwähnen. Da kaum noch Gelder für den Ausbau dieses Netzes vorhanden sind und auch die Umweltbelastung relativ hoch ist, müssen hier neue logistische Konzepte im Verkehrsverbund entwickelt werden.
Sie sprachen die Globalisierung an. Manchmal habe ich den Eindruck, als ob dieser Begriff für alle möglichen Reaktionen oder Maßnahmen, seien sie nun notwendig oder nicht, herhalten soll. Sehen Sie dies auch so?
Wildemann: Ohne Zweifel führt dieser Trend zu immer größeren Märkten. Allein aus der Öffnung Osteuropas resultierte eine erhebliche Zunahme des Güterverkehrs in Europa. Dazu kommt, dass in gesättigten Märkten die Produkte immer ähnlicher werden. Will man eine Produktdifferenzierung herbeiführen, muss dies durch zusätzliche Dienstleistungen geschehen, beispielsweise im Bereich Logistik. Letztere wiederum können allerdings nur in den Märkten erbracht werden, in denen die entsprechenden Produkte angeboten werden. Der Trend zur stärkeren Differenzierung der Produkte ruft zwangsläufig nach vermehrten logistischen Dienstleistungen.
Wildemann: Die überwiegend vom Kunden initiierte Produktvielfalt bedeutet mehr Varianten, noch intensivere Kundenbindung und damit zwangsläufig auch mehr logistische Dienstleistungen.
Betrachtet man die einzelnen Branchen, so kann man unterschiedliche Rationalisierungspotentiale im Bereich der Logistik ausmachen.
Wildemann: Mit Blick beispielsweise auf den Detailhandel kann festgestellt werden, dass dieser sein logistisches Einsparpotential bei weitem noch nicht ausgeschöpft hat. Die Bemühungen im Bereich ECR (Efficient Consumer Response) zeigen klar auf, dass der Handel, ausgehend vom Verkaufspunkt, die gesamte rückwärtige Versorgungskette steuern will, um Logistikkosten einsparen zu können. Betrachten wir andererseits die High-Tech-Branche, so muss festgestellt werden, dass hier die Logistikmaßnahmen noch immer einen Anteil von 30% bis sogar 50% der gesamten Herstellkosten ausmachen. Hier bestehen noch immer erhebliche Rationalisierungspotentiale.
Daraus ergibt sich der Schluss, dass ausgeklügelte Logistikkonzepte heute einen entscheidenden Faktor der Konkurrenzfähigkeit darstellen.
Wildemann: Eine rationelle Logistik ist einer der wichtigsten Konkurrenzvorteile. Wir können mit Blick auf die europäische Industrie feststellen, dass diese sehr rasch gelernt hat, auch mit gezielten Maßnahmen eine strategische Kostenführerschaft zu erreichen. Dazu gehört die Nutzung der bestehenden Wachstumsmöglichkeiten, aber auch die verbesserte Kundenbindung. Beide Bestrebungen können mit intelligenten logistischen Konzepten optimiert werden. Gleichzeitig darf aber nicht vergessen werden, dass auch in der Produktion selbst erhebliche Anstrengungen unternommen worden sind, um die Kosten weiter zu senken.
Trotz all dieser Bemühungen erreichen die Vertriebskosten in vielen Branchen noch immer 20 - 40% der Gesamtkosten. Woran liegt das?
Wildemann: Diese Kosten sind in der Tat noch immer relativ hoch. Neben den Bemühungen auf logistischer Ebene kamen aber in jüngster Zeit neue Einsparmöglichkeiten, vor allem im Distributionsbereich, dazu. Stichworte dazu sind Call Centers und Internet. Aber erst durch die geschickte Kombination der logistischen Technologie und dieser neuen Medien wird es möglich sein, weitere Kosten einzusparen. Hier sind noch ins Gewicht fallende Potentiale zu erschließen. Im Zusammenhang mit den soeben angestellten Überlegungen taucht immer wieder der Begriff: Just-in-time (JIT) auf. Ein Begriff, der noch immer falsch verstanden wird.
Worauf ist das zurückzuführen?
Wildemann: Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass sich weltweit die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass es kein effizienteres Produktions- und Logistikkonzept gibt als eben Just-in-time. Ein Grund für die oft falsch verstandene Philosophie liegt wohl darin, dass bei JIT oft nur der Produktionsbereich fokussiert wurde, nicht aber die gesamte Logistikkette. Andererseits beruhen neue Verfahren wie z.B. Supply Chain Management weitgehend auf Just-in-time. Efficient Consumer Response (ECR) ist nicht anderes als die Übertragung von JIT auf den Handel.
In den vergangenen Jahren haben zahlreiche Industrieunternehmen ihre verschiedenen Fertigungsanlagen auf einige wenige zentrale Standorte konzentriert, um höhere Serien zu geringeren Stückkosten fertigen zu können. Andererseits sind mit dieser Produktionsoptimierung höhere Transportleistungen verbunden, um die Produkte zum Endverbraucher transferieren zu können. Eigentlich ein Widerspruch.
Wildemann: Es wird sicher nicht mehr zu einer Dezentralisierung großer Produktionsvolumen im althergebrachten Sinne kommen. Die Economies-of-scale behalten nun mal ihre Gültigkeit. Diese Entwicklung basiert nicht zuletzt auf der Erkenntnis, dass nur die marktführenden Anbieter Geld verdienen, bzw. wenn man Marktführer sein will, muss man zwingend auch Kostenführer sein. Im Rahmen der Globalisierung ist es durchaus vorstellbar, dass es wieder zu einer gewissen Dezentralisierung der Produktion kommen wird. Allerdings dahingehend, dass an einem Ort auch nur ein bestimmtes Teil oder Produkt gefertigt wird, an einem anderen Ort ein anderes Erzeugnis. Es wird zu einer anderen Arbeitsteilung kommen, die sich wiederum auf die Struktur der Produkte auswirken wird. Ein Stichwort hierzu ist die Plattform-Strategie.
Apropos Plattform-Strategie, ein Unternehmen, welches diese optimiert hat, ist Volkswagen. Jüngste Berichte besagen allerdings, dass diese Plattform-Strategie vom Kunden nicht immer akzeptiert wird.
Wildemann: Die Grundidee, von Basis-Komponenten hohe Stückzahlen zu fertigen und diese dann in verschiedenen Erzeugnissen einzubauen oder zu verwenden, ist nicht schlecht. Das Problem dabei ist die Preisdifferenzierung gegenüber dem Kunden. Dieser ist in Zukunft nämlich nicht mehr unbedingt bereit, ohne ersichtlichen Grund für ein bestimmtes Produkt einen höheren Preis zu bezahlen.
Welchen ‘Ausweg‘ sehen Sie denn?
Wildemann: Wir müssen eine neue Produktordnung kreieren, die der Globalisierung Rechnung trägt. Wir müssen uns die Frage stellen, wie ein Produkt beschaffen sein muss, dessen einzelne Komponenten in verschiedenen Kontinenten gefertigt werden. Bisher galt doch: hohe Komplexität von Produkten gleich hohe Kosten. Vom richtigen Management der Beschaffungs-, Produktions- und Vertriebsprozesse hängt der Erfolg zukünftiger Produkte in entscheidendem Masse ab. Markenidentität bei zunehmender Variantenvielfalt und Individualisierung der Produkte wird in Zukunft ein wichtiges Asset sein.
Sie arbeiten an solchen neuen Produktstrategien, wie sehen diese konkret aus?
Wildemann: Durch die stärkere Konzentration und Spezialisierung auf einzelne Baugruppen oder Module entstanden neue Produkte. Wir stellen fest, dass bestimmte Eigenschaften oder Attribute von Produkten für den Kunden oft viel wichtiger sind als die gesamten Produktkonzepte. Mit neuen Produktordnungs-Systemen können in höherem Masse als bisher Probleme des Kunden gelöst werden. Zukünftige Produkte müssen in die Problemlösung des Kunden eingepasst werden. Dies bedeutet für den Kunden, spürbare Innovationen stärker zu beachten.
Kann aus diesen Äußerungen der Schluss gezogen werden, dass ein Nischenplayer bzw. ein ‘kleiner‘ Hersteller die größeren Chancen hat als ein Massenhersteller?
Wildemann: Dies hängt sehr stark vom Marktsegment ab. Es gibt Hersteller, welche ihren Markt sukzessive kleiner gemacht haben und damit zum gefragten Spezialisten geworden sind. Solche Hersteller sind praktisch schwer angreifbar, weil sie eine technologische Problemlösung für den Kunden aufgebaut haben, welche für diesen unverzichtbar geworden ist. Andererseits gibt es Massenhersteller, die Marktführer sind und die sich mit einer Zweitmarke eine zusätzliche Produktebene aufbauten, um ihre Erstmarke gegen Angriffe zu schützen.
Zweitmarken müssen zwangsläufig billiger bzw. etwas billiger sein, müssen also zu tieferen Kosten in sogenannten Niedriglohnländern gefertigt werden, was wiederum zu höheren Logistikkosten führt.
Wildemann: Die logistische Optimierung hängt heute von einer Vielzahl von Einflussfaktoren ab, m.a.W. man kann praktisch nie eine optimale Logistik erreichen, sondern nur eine möglichst hohe Annäherung an das Optimum. Entscheidend ist dabei, dass man dieses Optimum schneller erreicht als der Wettbewerber. Diese verschiedenen Parameter in den Griff zu bekommen, ist einer der wesentlichen Erfolgsfaktoren.
Eine Verlagerung der Produktion in Länder mit niedrigen Lohnkosten allein garantiert also noch keinen Erfolg...
Wildemann: Für einige Branchen ist diese Verlagerung lebensnotwendig, doch generell betrachtet, ist dies nicht der Trend. Heute denken wir ja bereits über eine beschäftigungsfördernde Rationalisierung nach. Was heißt das genau, doch nichts anderes als eine höhere Flexibilität der Arbeitsplätze....
..... die wiederum Arbeitsplätze sichern hilft.
Wildemann: So ist es. Viele Unternehmen fordern heute flexible Arbeitszeiten und flexible Löhne und gewährleisten im Gegenzug eine höhere Arbeitsplatzsicherheit.
Flexible Arbeitszeiten allein genügen aber doch wohl nicht, es braucht doch auch neue Arbeitsmethoden.
Wildemann: Form und Umfang der Flexibilisierung wird weitgehend vom Markt bestimmt. Heute liegt das Augenmerk in diesem Bereich auf vier Variablen: zum einen die flexible Arbeitszeit, zum zweiten die Gruppenarbeit mit Zeitautonomie und Flexibilität, um in arbeitsteiligen Prozessen Autonomie zu gewährleisten. Ferner Qualifikation, denn die Gruppenarbeit setzt Mehrfacheinsätze der einzelnen Mitarbeiter voraus und schließlich die Frage der Entlohnung. Letztere muss eine Grundkomponente und eine Leistungskomponente enthalten.
Das Ganze wird zudem überlagert durch völlig neue Informatik-Technologien. Dank diesen stehen wichtige Informationen weltweit und zeitgleich zur Verfügung. Diese Erkenntnisse scheinen sich aber noch bei weitem nicht voll durchgesetzt zu haben, denn es gibt noch immer zahlreiche Firmen, die bei Problemen zuerst einmal Arbeitsplätze abbauen, in der Annahme, dadurch das Kostenniveau senken zu können. Machen es sich einige Unternehmer nicht etwas zu einfach?
Wildemann: Was macht ein Sanierer zuerst? Er reduziert die Fertigungstiefe, er streicht Produkte, die keine Gewinne mehr abwerfen, und eliminiert diejenigen Produktvarianten, für die keine Deckungsbeiträge mehr erzielt werden. Dieses Downsizing oder diese Fokussierung ist eine reine Überlebensstrategie, die einen gewissen Zeitgewinn ermöglicht und die gewährleisten soll, dass der verbleibende Teil des Unternehmens gesundet. Doch das kann es allein nicht sein. Das Downsizing muss gefolgt werden von einer zweiten Strategie, der sogenannte Lernstrategie.
Was beinhaltet diese Lernstrategie?
Wildemann: Über Prozessveränderungen muss die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens gesteigert werden, denn nur wer über die Marktführerschaft verfügt, wird längerfristig überleben.
Sie setzen mit ihren Spezialisten - im Gegensatz zu manchen Unternehmensberatern - die vorgeschlagenen Rationalisierungsmassnahmen auch durch bzw. begleiten deren Umsetzung. Welches ist nun der schwierigere Teil der Mission, die Erarbeitung oder die Durchsetzung der Rationalisierungsmassnahmen?
Wildemann: Mein Team hat in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Konzepten erarbeitet, die wir auch publiziert haben. Insofern sind also unsere Konzepte - beispielsweise die modulare Fabrik, die Produktklinik oder die Genesis-Workshops - nachvollziehbar. Unsere Rolle bei der Sanierung eines Unternehmens ist diejenige des Sparringpartners. Wir müssen Alternativen aufzeigen. Meine Partner, andererseits, können die von uns vorgeschlagenen Konzepte prüfen, beispielsweise über Referenzprojekte, die wir bei anderen Unternehmen realisierten. Die eigentliche Umsetzung der Rationalisierungsmassnahmen allerdings muss durch die betroffene Firma erfolgen, hier können wir beratend mitwirken und mit unseren Methoden zur Mitarbeiterqualifikation eine Hilfe zur Selbsthilfe leisten.
Nachdem ein Produktionssystem reorganisiert wurde, wie lange dauert es, bis man wieder ins ‘alte Fahrwasser zurückzufallen droht. ‘Oder anders formuliert, wann müssen Sie erneut eingreifen und wiederum neue Methoden einführen?
Wildemann: Es kommt praktisch kaum vor, dass ich gebeten werde, die Situation nachzubessern, vielmehr ertönt der Ruf nach neuen Aspekten, die wiederum zu einer Optimierung der Abläufe oder der Organisation führen sollen. Eine Organisationsentwicklung funktioniert im Grunde genommen wie eine Maschine, will man bei letzterer von der Haftreibung auf die Gleitreibung wechseln, braucht dies viel Energie. Nach einer gewissen Zeit gelangt eine Organisation wieder in den Zustand der Haftreibung, dann ist ein erneuter Effort nötig, um wiederum in den Zustand der Gleitreibung zu gelangen. Es gibt eine ganze Reihe von Firmen, die ich seit vielen Jahren begleite, aber immer wieder unter anderen Aspekten.
Aufgrund dieser Tätigkeit haben Sie und Ihr Team einen umfassenden Einblick in die Situation vieler Unternehmen und Branchen. Ein Know-how, das bei ähnlich gelagerten Problemen genutzt werden kann.
Wildemann: Wir haben basierend auf unserer Beratertätigkeit eine Prozess-Benchmarking-Datenbank aufgebaut, an der über 280 Firmen beteiligt sind. Die Daten dieser Firmen werden unter strengster Diskretion von uns erfasst und verarbeitet. Wir haben sehr viel Know-how in dieses Werkzeug investiert, von dem unsere Kunden im Streben nach Best-Practice-Lösungen profitieren können.
Wir sprachen davon dass zahlreiche Produktionsunternehmen ihre Fertigung auf wenige Standorte konzentrieren. Welche Folgen hat diese Optimierung auf das Verkehrsvolumen in Europa, bzw. wie sollen in Zukunft die wachsenden Güterströme bewältigt werden?
Wildemann: Ganz offensichtlich arbeiten bestimmte Verkehrsträger ineffizient. Für diese müssen neue Verkehrskonzepte entwickelt und realisiert werden. So muss die Bahn die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen effizient(er) nutzen. Im Güterverkehr muss die Lösung der Probleme nicht in Einzelbetrachtungen gesucht werden, sondern im Verbund. Es müssen neue Verkehrskonzepte erarbeitet werden, die einen sinnvollen Einsatz der Verkehrsträger Schiene und Strasse erlauben. Ebenso wichtig aber ist auch, dass die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verändert werden.
Stichwort Bahn, man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die europäischen Bahnen viel zu unbeweglich sind, um in kurzer Zeit in schlagkräftige Organisationen verwandelt zu werden.
Wildemann: Aus den bewährten Organisationsformen in der Industrie kann man eine wichtige Erkenntnis ziehen. Erfolgreiche Marktteilnehmer müssen organisatorisch kleiner werden, um wachsen zu können. Mit anderen Worten, die Bahnen müssen in einzelne Organisationen aufgeteilt werden, erst dann werden sie in die Lage versetzt, flexibler auf die Marktveränderungen reagieren zu können. Die Privatisierung der Bahnen ist zwar ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, aber sie verläuft viel zu langsam.
Die Liberalisierung der europäischen Bahnen kommt, darüber sind sich wohl alle Beobachter einig, viel zu schwerfällig voran. In der Zwischenzeit allerdings nimmt die Bedeutung der Strasse, als jetzt schon bedeutendster Verkehrsträger Europas, weiter zu, weil die modernen Just-in-time-Konzepte, die wir eingangs diskutierten, optimale Transportzeiten voraussetzen. Drohen die Bahnen nicht den Anschluss zu verlieren?
Wildemann: So schlecht stehen meiner Ansicht nach die Chancen der Bahnen auch wieder nicht. Würden die Bahnen beispielsweise durchgehende Trassen zwischen Nordeuropa und Südeuropa unterhalten, die ausschließlich dem Güterverkehr zur Verfügung stehen, könnten große Mengen an Gütern umweltfreundlich transportiert werden. In dieser Beziehung könnten die europäischen Bahnen viel von den japanischen Bahnen lernen.
Es müssten also völlig neue Trassen gebaut werden, denn heute kommt dem Güterverkehr auf der Schiene höchstens zweite oder gar dritte Priorität zu. Sind denn solche Investitionen überhaupt zu finanzieren?
Wildemann: Meiner Meinung nach sind diese Investitionen geringer als jene in neue Strassen, und dem Umweltaspekt könnte stärker Rechnung getragen werden. Der Güterverkehr wird sich immer den wirtschaftlichsten und zeitlich besten Weg aussuchen, und hier müssen die Bahnen ihre Chancen deutlich verbessern.
Einen Faktor in der ganzen Verkehrsdiskussion in Europa stellen die von den einzelnen Verkehrsträgern verursachten Kosten und deren Bezahlung dar. Dem wird vorgeworfen, er bezahle seine von ihm verursachten Kosten nicht. Straßengüterverkehr
Wildemann: Faktum ist, dass der europäische Güterverkehr unter erheblichen Verzerrungen leidet, die eine vernünftige Aufteilung der Güterverkehrsströme erschweren. Niemand weiß, wie viel der Straßengüterverkehr objektiv kostet. Wir wissen allerdings, dass er die Kosten, die wir heute kennen, nicht aufbringt. Dies liegt ja nicht zuletzt an den Transportpreisen. Warum sollen diese nicht erhöht werden? Der Markt wird darauf eine Antwort haben.
Einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung in der gesamten Logistik haben die neuen elektronischen Medien, Stichworte sind E-Commerce, Internet und Intranet. In welcher Weise beeinflussen diese neuen Möglichkeiten die Güterverteilung?
Wildemann: Aus einer Studie über den Straßenverkehr in München geht hervor, dass die Autofahrerinnen und Autofahrer, welche in die Stadt fahren, etwa 30 bis 50% der gefahrenen Kilometer für die Parkplatzsuche aufwenden. In dieser Beziehung könnte der Einkauf via Computer bzw. E-Commerce eine deutliche Entlastung bewirken. Doch E-Commerce kann gerade so gut zu Mehrverkehr führen. Der Konsument kann einzelne Produkte weltweit bestellen, und er wird sie dort ordern, wo er den besten Preis erhält. Dies wiederum wird höchstwahrscheinlich zusätzliche Güterströme und logistische Dienstleistungen auslösen.