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Zum Sinn persönlicher und unternehmerischer Tätigkeit: Purpose = Ikigai

[10.11.2023]

Foto: eigene Grafik

Ikigai ist eine japanische Lebensphilosophie, die sich mit dem Wert und dem Sinn des Lebens beschäftigt. Sie besteht aus vier Aspekten: Leidenschaft, Mission, Berufung und Beruf. Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Horst Wildemann reflektiert in diesem Artikel seinen eigenen Weg, auf dem er seine Leidenschaft für die Technik entdeckte und zum Wissenschaftler wurde. Sein Zweck (Ikigai) ist es, Unternehmen wettbewerbsfähiger zu machen und damit Wachstum und Wohlstand zu fördern.

Purpose erinnert mich an ein Thema, das ich 1982 während meiner ersten Japanreise kennen gelernt habe und das mich seitdem begleitet: Ikigai. Dahinter steckt eine japanische Lebensphilosophie, denn „Iki“ – das bedeutet Leben. Und „gai“ heißt wohl so viel wie: Wert. Es geht in die Richtung: Wert des Lebens oder Lebenssinn. Kurz gesagt geht es also um die Frage, warum wir jeden Morgen aufstehen. Im Einzelnen unterscheidet die Ikigai-Philosophie vier verschiedene Aspekte, die zusammen den Wert oder Sinn eines Lebens ausmachen:

  1. Die Leidenschaft: Das betrachtete Unternehmen muss in die Modernisierung seiner IT-Systeme und die Implementierung von datengestützten Analysetools investieren, um Prozesse effizienter zu gestalten und eine bessere Entscheidungsgrundlage zu schaffen. Gemeinsam mit dem TCW wurde daraufhin ein Datenmanagementsystem eingeführt und automatisierte Prozesse etabliert, um die Effizienz der betrieblichen Abläufe zu steigern.

  2. Die Mission: TCW etablierte mit dem Unternehmen die Einführung eines gezielten Fortbildungsprogramms, um die Kompetenzen der Mitarbeiter zu stärken und ihre Fähigkeit zur Bewältigung von Veränderungen und Herausforderungen zu fördern. Dazu zählen interne und externe Schulungen, Workshops und Seminare und die Etablierung zusätzlicher Mentoring-Programme, um den Wissenstransfer innerhalb des Unternehmens zu fördern. Das TCW schulte die Mitarbeiter im Bereich Data Science. Dadurch wurden die Mitarbeiter im Umgang mit Daten und Analysemethoden geschult. Darüber hinaus wurden die Mitarbeiter befähigt Data Science Use-Cases im Unternehmen zu identifizieren und zu bewerten.

  3. Die Berufung: Die Einführung regelmäßiger Mitarbeitergespräche und Feedbackrunden ermöglicht eine offene Kommunikation. Um eine gesunde Fehlerkultur zu fördern, wurde ein systematischer und agiler Ansatz zur Identifizierung, Analyse und Lösung von Problemen eingeführt, bei dem Mitarbeiter ermutigt wurden, Fehler offen zu kommunizieren und gemeinsam Lösungen zu finden.

  4. Der Beruf: Gemeinsam mit TCW wurde ein Projekt initiiert, um die Marktpositionierung des Unternehmens neu zu bewerten und seine Produkt- und Serviceangebote anzupassen, um flexibler auf Marktveränderungen reagieren zu können.

Etwas Ganzes, eine eigenständige Form, wird aus diesen vier Aspekten nun nicht einfach durch Addition. Aus den jeweiligen Schnittmengen dieser vier Aspekte formt sich etwas Neues: ein eigenes „Ikigai“. Die japanische Lebensphilosophie geht davon aus, dass wir alle nach der Bildung eines solchen „Ikigai“ streben. Und ich selbst kann das heute bestätigen. Zugleich freue ich mich, wenn ich merke: Auch junge Menschen im Jahr 2023 haben solch einen inneren Antrieb. Ich erkenne, dass sie Ziele haben und diese verfolgen; dass sie ihre Werte sehr klar benennen und sich dafür einsetzen. Sie wollen etwas erreichen mit dem, was sie tun und wie sie es tun. Kurz: Sie wollen einen Sinn finden. Nur nennen sie das heute: Purpose.

Das Ziel allein

Das Ziel allein macht noch keinen Weg. Der entsteht bekanntlich erst beim Gehen. Sie entsprechen den unterschiedlichen Phasen, die jeder von uns durchlebt, und die gemeinsam den persönlichen Lebensweg beschreiben. Bei mir waren das sechs Phasen, die sich – aus heutiger Sicht – dankenswerterweise alle zusammenfügen:

Die erste Phase – das war die Zeit, als mein Vater Republikflucht begangen hat. Und die zur Folge hatte, dass ich die Schule verlassen und stattdessen auf dem Land arbeiten musste. Bis dahin kannte ich nur geistige Produktivität. Als Schüler habe ich meine Hausaufgaben gemacht, habe Aufsätze geschrieben und mithilfe von Integralrechnung bestimmt, wie weit Raketen fliegen. Gelegentlich stieß ich auch an meine Grenzen, wenn ich mir beispielsweise die schwierigen Russischvokabeln nicht einprägen konnte. Doch wir sind darauf konditioniert, bei geistigen Herausforderungen nicht aufzugeben und es so lange weiter zu versuchen, bis es klappt.

Ganz anders ist es bei körperlicher Arbeit. Ich erinnere mich noch heute an dieses überwältigende Gefühl, das ich morgens bei Arbeitsantritt hatte. Jeden Tag aufs Neue haben wir ein großes Arbeitspensum bekommen. Und jeden Tag aufs Neue musste bis abends alles erledigt sein. Oft habe ich mich gefragt: Wie soll ich das schaffen? Natürlich wurde ich stärker und meine Kondition verbesserte sich. Allerdings kann der menschliche Körper seine Ressourcen nicht unendlich steigern. Schließlich können uns nicht zwei weitere Hände oder Beine wachsen, auch wenn das damals häufig hilfreich gewesen wäre. Während ich auf dem Land arbeitete, habe ich also schon viel darüber nachgedacht, wie man dieses menschliche Defizit ausgleichen könnte, – oder anders gesagt: Ich stellte meine ersten kindlichen Überlegungen über Produktivitätszuwachs an. Gleichzeitig wurde mir auch bewusst, wie wichtig Bildung ist. Denn nur mit „mehr arbeiten“ wird sich dieses Problem nicht lösen lassen. Man muss etwas wissen, um die Grenzen des menschlichen Körpers zu überwinden und somit produktiver zu sein.

Als ich dann in der zweiten Phase schließlich selbst den Weg von Ost nach West antrat, eröffnete sich mir eine neue Welt – eine Welt voller Möglichkeiten, in der ich diese Bildung erhalten habe. Zunächst ging ich in die Lehre als Werkzeugmacher. Denn Technik hatte mich von klein auf begeistert. Ich wollte immer noch mehr darüber wissen. Deshalb studierte ich Ingenieurswesen.

Das war die dritte Phase. Und mit ihr formte sich meine Antwort auf eine der vier Ikigai-Fragen: Was habe ich seit Kindesalter gerne gemacht und mache es immer noch? – Das war für mich ganz klar: die Technik für den Menschen einsetzen. Ihr galt und gilt meine Leidenschaft. Und die wurde zur Grundlage für meine vierte Phase, meine Zeit als Manager in der Automobilindustrie. Damit hatte ich einen Beruf. Aber: Meine Berufung war das noch nicht. Die fand ich – in der fünften Phase – erst an der Universität. Ich studierte erneut – Betriebswirtschaft – und entwickelte mich zum Wissenschaftler.

Die letzte Phase schließlich, die bis heute anhält, das war und ist meine wissenschaftliche Beschäftigung mit einer Vielzahl von Themen: von der klassischen Fertigungstechnik über die Logistik bis hin zur Modularisierung und Digitalisierung von Prozessen und Unternehmen mit Hilfe von KI-Modellen.

Im Laufe der Jahre kristallisierte sich meine Mission dabei immer deutlicher heraus: Ich wollte Konzepte entwickeln und umsetzen, mit denen die deutsche Industrie auf dem internationalen Markt wettbewerbsfähig bleiben kann. Denn auch, wenn Deutschland in puncto Wohlstand, Nachhaltigkeit und Lebensqualität immer noch unter den Top Ten in globalen Rankings rangiert, – das Fundament bröckelt. Investitionen wandern aus Deutschland ab – aus traditionellen Branchen wie Chemie, aber auch aus Wachstumstreibern wie IT und Elektronik. Das zeigt auch eine kürzlich herausgegebene Studie über die 500 Unternehmen weltweit, die am meisten für Forschung und Entwicklung ausgeben. Bekannt ist, dass hohe Ausgaben für Forschung und Entwicklung in der Regel mit einem hohen Gewinn korrelieren. Für mich und meine Mitarbeiter war es deshalb immer wichtig, das Thema Innovation in den Unternehmen zu stärken; mit unseren Arbeiten Impulse zu geben für Wandel und Veränderung, um am Ende mehr für alle zu erreichen. Deshalb haben wir Strategien entwickelt zur Produktivitätssteigerung per Industrie 4.0, wandlungsfähige Auftragsabwicklungssysteme, oder forschten über additive Fertigung von Bauteilen aus Metall.

Ich habe also meinen Purpose, mein Ikigai, – ein Motiv, das mich jeden Morgen aufstehen lässt: Ich wollte immer dazu beitragen, und Unternehmen wettbewerbsfähiger machen. Und damit: mehr Wachstum und mehr Wohlstand für die Menschen erreichen. Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Mit einem solchen „Ikigai“ sind natürlich nicht alle Probleme gelöst. Denn so ganz von selbst übersetzt sich ja zum Beispiel „mehr Produktivität“ nicht in mehr Wohlstand für alle. So kann es sein, dass Automatisierung und Digitalisierung Arbeitsplätze kosten. Und dass damit für viele Menschen zunächst Nachteile entstehen. Das heißt: Es gibt immer wieder Spannungsfelder. Aber gerade das macht ja den Reiz aus. In der Wissenschaft gibt es mehr als eine Wahrheit: Ja, Automatisierung und Digitalisierung kosten zuweilen Arbeitsplätze. Aber wir konnten auch zeigen: Sie schaffen auch neue Arbeit. Und auch dort, wo widersprüchliche Wahrheiten und Überraschungen weniger klar aufzulösen sind, bleibt die wissenschaftliche Arbeit besonders interessant.

Wie gehen wir mit Überraschungen um? Für den Erfolg auf lange Sicht ist die Entstehung einer gewissen Resilienz von großer Bedeutung.

Um die Wirkweise von Schocks und Überraschungen zu systematisieren, nutzen Ökonomen sowie Naturwissenschaftler 4 Merkmale:

  • die Amplitude – also die Kraft, mit der ein Schock das System trifft;
  • die Frequenz – also der Abstand der Einschläge;
  • die Langzeitwirkung – die Einflussdauer auf der Zeitachse;
  • das statistische Muster des Auftretens – nicht prognostizierbar.

Dazu folgt die Frage: „Werden sich die Unternehmen und auch einzelne Menschen rasch erholen, oder werden sie bei Schocks dauerhaft ausscheiden?“

Resilienz ist hier das Lösungskonzept – ein Begriff aus der Materialforschung. Es steht für die Fähigkeit zurückzufedern, im Unterschied zur Robustheit, deren Fähigkeit ist standzuhalten. Es geht also darum, einen Sturm zu überstehen und sich danach zu erholen. Aus der krisenhaften Zusammenballung der Schocks wird Panik erzeugt. Angst vor Wohlstandsverlust und Angst um die Arbeitsplätze. Angesichts der Unsicherheiten ist es wahrscheinlich, dass apokalyptische Zukunftsversionen uns lähmen. In einer schwierigen Zeit kommt es darauf an, einen kühlen Kopf zu bewahren und zu schauen, was man schaffen kann. Für die Bewältigung von Angst sind wir allein verantwortlich. Wir benötigen eine Balance von Pessimismus und Zuversicht – allein mit positivem Denken und Achtsamkeit werden wir es nicht hinbekommen. Es ist ein Konzept angesagt: kritisch, unabhängig und provokativ. Also Robustheit erhöhen und Regeneration beschleunigen.

Heute, nach über 50 Jahren in der Wissenschaft, muss ich sagen: Es ist schade, dass ich erst vor vergleichsweise kurzer Zeit darauf aufmerksam geworden bin, wie hilfreich dieser Begriff auch außerhalb der Werkstoffkunde ist. Denn heute bin ich sicher: Unternehmen, die im 21. Jahrhundert eine Zukunft haben wollen, müssen vor allem ein Höchstmaß an Resilienz aufbringen. Wir steuern auf eine neue Zeit der Perma-Krise zu; auf technologische, geo-strategische und politische Verwerfungen, wie wir sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs im globalen Maßstab nicht mehr erlebt haben. Wieder, gut 65 Jahre nach der Republikflucht meines Vaters, beginnt also etwas Neues.

Und ich kann darauf – nach allem – nicht anders schauen als mit der Frage: „Welche Möglichkeiten eröffnen sich dadurch?“ Wie können wir nachhaltiges Leben gestalten und dennoch Wohlstand genießen? Wie organisieren wir weltweite Lieferketten zum Wohle aller? Wie werden wir künftig produzieren, forschen, uns weiterentwickeln? Aber es kann uns auch – wenn wir in diesem spannungsreichen Gebilde namens Wissenschaft arbeiten – an die Frage erinnern: Wo stehen wir? Was brauchen wir – außerhalb unserer selbst – um vollständig zu sein?

Es sind die Menschen, die unseren Weg begleiten; die ihn oft erst möglich machen und durch ihre Sicht der Dinge unsere eigenen Ergebnisse noch einmal in ganz neuem Licht, in neuer Brechung, erscheinen lassen. Von diesen Menschen gab es viele auf meinem Weg. Zu viele, um sie hier alle namentlich zu erwähnen. Aber ihnen vor allem bin ich an einem Tag wie diesem zu Dank verpflichtet.

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