[06.03.2001]
CW Extra:
Woher kommt plötzlich wieder das starke Interesse am Thema Logistik? Viele der Theorien sind bereits 30 Jahre alt.
Wildemann:
Bisher haben sich Unternehmen hauptsächlich auf die innerbetriebliche
Effizienz konzentriert. Das reicht heute nicht mehr. Nun gilt es, die
komplette Wertschöpfungskette zu betrachten und zu verbessern. Dazu
gehören im wesentlichen logistische Fragestellungen, also Material- und
Informationsflüsse. Hinzu kommt, dass man erkannt hat, dass sich
Supply-Chains nicht mit denselben IT-Werkzeugen optimieren lassen wie
die innerbetrieblichen Prozesse.
CW: Welche Rolle spielt dabei das Internet?
Wildemann:
Das Internet bietet neue Möglichkeiten wie die Transparenz von
Informationen über die ganze Lieferkette hinweg, ohne die
Entscheidungsautonomie der einzelnen Partner zu berühren. Dazu gehören
auch Konzepte wie Marktplätze, die auf Basis des Internet
wirtschaftlicher sein können, als konventionelle Einkaufs- oder
Vertriebsverfahren. Das Internet fördert zudem die Bildung virtueller
Unternehmen mit einer stark ausgeprägten Arbeitsteilung, wobei sich die
Partner innerhalb dieses Netzes auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren.
Das erfordert erhebliche Anstrengungen, die unternehmensübergreifende
Logistik, also das Zusammenspiel dieses Netzes, zu steuern.
CW: Worin liegen die Effekte durch E-Techniken?
Wildemann:
Der größte Vorteil ist die Geschwindigkeit: Dank
Supply-Chain-Management mit seinen Marktplätzen und
Beschaffungssystemen lassen sich binnen kürzester Zeit weltweit die
günstigsten Lieferanten finden. Die Laufzeit von Projekten verkürzt
sich dadurch drastisch. Die dazu notwendige Informationslogistik lässt
sich schnell und wirtschaftlich gestalten, da die Infrastruktur in Form
des Internet zu erschwinglichen Preisen verfügbar ist und viele
Unternehmen bereits funktionierende ERP-Backbone-Systeme installiert
haben. Im Gegensatz dazu stellt man nun fest, dass die materielle
Logistik nicht hinreichend so schnell funktioniert wie die
Informationslogistik - deshalb die Rückbesinnung auf das Thema
Supply-Chain-Management. Die Physik in einer Lieferkette lässt sich
auch durch IT nicht beeinflussen: zwischen den Fabriken ist und bleibt
die durchschnittliche Geschwindigkeit etwa 15 Kilometer pro Stunde,
innerhalb der Fabriken liegt dies bei rund einem Meter pro Tag. Man
muss also neue Konzepte entwickeln und annehmen, um hier etwas zu
bewegen.
CW: Vor drei, vier Jahren wurde den Unternehmen gepredigt: kümmert Euch um Eure Kunden, verbessert den Vertrieb, steigert den Umsatz, denn hier stecken die Möglichkeiten für mehr Wirtschaftlichkeit und Wachstum. In der Produktion oder Logistik dagegen seien kaum noch Rationalisierungspotentiale vorhanden.
Wildemann:
Die Schlußfolgerung stimmt so nicht. Mit SCM-Tools lassen sich die
beeinflussbaren Kosten durchschnittlich um bis zu 35 Prozent senken, das
können rund zwei Prozent der Umsatzrendite eines Unternehmens
ausmachen. Durch E-Sourcing, also die automatisierte Beschaffung von
komplexen Produkten und Dienstleistungen über das Web, lassen sich
nochmals zehn bis fünfzehn Prozent des Einkaufsvolumens beeinflussen.
Daraus kann bei über sechzig Prozent Einkaufswert vom Umsatz eine
Steigerung der Umsatzrendite von 2,5 bis 4 Prozent resultieren. Während
SCM allerdings auf die Wettbewerbsfähigkeit über die gesamte
Lieferkette abzielt, konzentriert sich der dritte große Bereich, der
durch E-Technologien beeinflussbar ist, nämlich das
Customer-Relationship-Management (CRM), auf die Wettbewerbsfähigkeit
des Service, ist also stark vertriebsorientiert. SCM und CRM stehen
aber deshalb nicht in einem Konflikt zueinander, sondern ergänzen sich.
Eine nachhaltige Erschließung von Wettbewerbsvorteilen erfordert eine
Verfolgung beider Ansätze. Aus der Kundenorientierung im CRM kommt
übrigens auch ein Anschub für Logistikaufgaben: Produkte ähneln sich in
reifen Mörkten immer stärker. Also bleibt Unternehmen keine andere
Wahl, als sich durch Service vom Mitbewerber abzuheben. Dazu gehören
auf der einen Seite Auskunftssysteme andererseits aber auch eine hohe
Lieferfähigkeit, Schnelligkeit, und die Handhabung einer großen
Variantenvielfalt. Und so sind wir wieder bei Produktions- und
Logistikthemen.
CW: Eine Frage, die im Zusammenhang mit SCM immer wieder gestellt wird, ist: wer profitiert davon?
Wildemann:
Unabhängig von der Größe der Unternehmen und Branche lässt sich
festhalten: Durch SCM kann die Liefertreue um 40 Prozent zunehmen,
während sich die Lieferzeiten um 30 Prozent verkürzen. Die
Durchlaufzeit in der Produktion lässt sich um 10 und die Bestände um
etwa 20 Prozent senken. Gleichzeitig verbessert sich die
Kapazitätsauslastung um 10 Prozent. Die Kosten für Einkauf sinken um 8
bis 10, des Vertriebs um 15 und in der Produktion um drei bis fünf
Prozent. Das gibt es natürlich nicht zum Nulltarif: Der Aufwand für die
Steuerung der Wertschöpfung steigt um rund 15 Prozent.
CW: Das klingt ja eindrucksvoll. Aber werden diese Werte auch tatsächlich realisiert, etwa durch Entlassungen?
Wildemann:
Wer heute IT-Systeme unter dem Aspekt der Rationalisierung einführt,
ist von gestern. Es geht vielmehr darum, Kostenzuwächse zu vermeiden
und wettbewerbsfähig zu sein. Das Ziel ist: Mehr Umsatz bei geringeren
Kosten mit den gleichen Leuten. Die IT-Systeme haben sich zu
Wettbewerbsinstrumenten gewandelt.
CW: In erster Linie profitieren doch nur die großen Konzerne von SCM, die damit ihre Herde von Lieferanten steuern.
Wildemann:
Es ist ein Irrglaube, dass alle innerhalb einer Supply Chain
gleichermaßen profitieren. Die Idee von SCM ist es, die gesamte
Wertschöpfungskette, ausgehend vom Point of Sales, zu planen und zu
steuern. Innerhalb dieser Kette sind unterschiedliche Eigentümer von
Anlagen, Läger etc. eingebunden. Ziel der Teilnehmer, vor allem der
Endabnehmer, ist es nun, über fremde Ressourcen zu verfügen und die
Dispositionshoheit zu erlangen - das ist doch die Schlitzohrigkeit. Man
braucht also nicht mehr der Besitzer von Waren oder Anlagen zu sein.
Hat man erst einmal die Planungs- und Steuerungshoheit, ist man im
übertragenen Sinne auch Eigentümer und kann die fremden Ressourcen
nutzen. Hier regt sich allerdings Widerstand. Ein Lieferant wird dem
Rat seines Kunden nicht folgen, seine Produkte zu bevorraten, nur damit
er schnell liefern kann, ohne vorher einen Rahmenvertrag zu erhalten.
CW: Wie kommt man aus diesem Dilemma heraus?
Wildemann:
Hier kommt der unabhängige Logistikdienstleister ins Spiel. Diesem
&üuml;bergeben Lieferanten ihre Produkte, und Kunden rufen diese
dann von dort in gewünschten Partien ab. Dadurch ergeben sich
transparente und meist auch geringere Kosten, da er auf logistische
Dienste spezialisiert ist, und in diesen Unternehmen oft niedrige Löhne
und Gehälter gezahlt werden. Durch die Auslagerung verringert der
Lieferant seine Kapitalbindung, indem seine eigenen Lagerbestände gegen
Null gehen. Das eingesparte Kapital lässt sich dann anderweitig
gewinnbringender einsetzen.
CW:Das gilt für Produktionsteile. Wie verhält es sich mit Einkaufsteilen?
Wildemann:
Hier kann man durch SCM aus mehreren Effekten Gewinne ziehen: Die
Bündelung von Einkaufsinteressen etwa in Communitys, Auktionen, um den
Verhandlungsspielraum für Preise zu vergrößern und einen weltweiten
Einkauf zu realisieren, und drittens ein Lieferanten-Management: Der
Einkäufer findet den günstigsten weltweit verfügbaren Lieferanten.
CW: Das gilt allerdings nur für C-Teile oder Verbrauchsmaterial und Hilfsstoffe ...
Wildemann:
Für solche Teile lässt sich ein Marktplatzgedanke natürlich am
schnellsten umsetzen. Es ist allerdings auch möglich, Aufzugtüren,
spezielle Gussteile oder Motoren per Auktion zu beschaffen. Es müssen
halt die entsprechenden Spezifikationen vorliegen.
CW: Wie stellt man denn sicher, dass die Qualität von eingekauften Produkten den vorgeschriebenen Standards entsprechen, wenn sich Lieferant und Einkäufer nur aus dem „Web-Chat" kennen?:
Wildemann:
Hier gibt es in der Tat Hindernisse zu überwinden. Dazu gehören
Qualitätssicherheit, Liefersicherheit, also kann der Lieferant auch in
geforderter Menge, Zeit, Preis und Qualität liefern. Hinderlich können
auch lange laufende Lieferverträge sein, die bereits abgeschlossen
wurden. Für Unternehmen gilt es, diese Hürden zu identifizieren und
Maßnahmen einzuleiten, sie abzubauen. Sinnvoll sind die neuen
E-Techniken wie Sourcing oder Auktionen etwa dort, wo sich diese
Stolpersteine rasch beseitigen lassen. Um solche Hindernisse zu
identifizieren und Electronic Sourcing-Strategien abzuleiten, haben wir
einen Leitfaden und Methoden entwickelt.
CW: Decken die Softwarelösungen für SCM etwa von I2, Manugistics J.D. Edwards und SAP die heutigen Anforderungen ab?
Wildemann:
Es läuft eher andersherum: Die Unternehmen bedienen sich der in
Software gegossenen Konzepte und setzen diese Prozesse ein, denn die
Anpassung der Tools an die individuellen Belange der Unternehmen ist
viel zu teuer. Das ist zwar nicht optimal, aber gängige Praxis. Die
Vorteile davon sind: Unternehmen müssen die Software nicht neu designen
und entwickeln, das birgt ja bekanntermaßen enorme Risiken. Darüber
hinaus greift man auf erprobte, stabile Lösungen zurück, die das
Know-how aus vielen Projekten beinhalten. Dafür müssen die Mitarbeiter
sich allerdings an neue Abläufe gewöhnen und ausreichend geschult
werden. Grundsätzlich liegt die Schwierigkeit bei SCM-Vorhaben
allerdings nicht in den Tools: Es sind die Strategie, die Konzepte, die
Architektur, die organisatorischen Veränderungen und die Qualität der
Partner, die Schwierigkeiten bereiten.
CW: Nach welchen Kriterien entscheiden sich Anwenderunternehmen für eine SCM-Lösung?
Wildemann:
Hier überwiegen leider Sicherheitsaspekte und Risiken, also die
finanzielle Stärke des Anbieters, oder ob schon Produkte des
Herstellers im Haus sind. Entscheidungen auf Basis von funktionaler
Abdeckung werden selten getroffen, da viele Anwender nicht in der Lage
sind, den Deckungsgrad der Software ausreichend zu beurteilen. Doch ich
gehe davon aus, dass Unternehmen Berater hinzuziehen, die diese
Beurteilungskompetenzen haben, und sich dann für die besten Lösungen
entscheiden und sich nicht von den Aussagen ihrer Lieferanten abhängig
machen.
CW: Kommen wir zu den organisatorischen Hindernissen. Die Planung und Steuerung einer Supply Chain berührt eine Vielzahl von Funktionen und Prozessen innerhalb und außerhalb von Unternehmen. Müssen die Kompetenzen hier nicht neu verteilt werden? Haben Ressorts, Abteilungsdünkel und andere Fürstentümer im Zeitalter von SCM ausgedient?
Wildemann:
SCM führt zu
einer Verschiebung des organisatorischen Gleichgewichts, dass muss
allen klar sein. Zunächst einmal beginnt man aber nicht damit, die
Aufbauorganisation zu verändern, sondern damit, die Prozesse
durchgängig zu gestalten. Die nächste Frage die beantwortet werden
muss, ist, wer die Verantwortung über Prozesse und Abschnitte hat. Bei
der Prozessanalyse sind die Beteiligten noch engagiert dabei, doch
jeder weiß, dass am Ende der Analyse die Rollen im Unternehmen neu
verteilt werden. Deshalb muss man den Sinn von SCM oder CRM und
ähnlichen Techniken erklären und nicht nur mehr schlicht Aufgaben
zuweisen.
CW: Aber die Unternehmen haben doch noch gar keine Prozesse und zugehörige Organisation implementiert. Es wird doch immer noch in Funktionen gedacht. Könnte hier ein Supply-Chain-Manager helfen, der mit Entscheidungskompetenzen für die Lieferkette ausgestattet ist?
Wildemann:
Ich glaube,
dass es nur in einigen Unternehmen einen Supply-Chain-Manager geben
wird. Es werden sich zunehmend Prozess-Inhaber etablieren. Zum
wichtigsten gehört die Auftragsabwicklung und derjenige, der diesen
Prozess plant und steuert, wird eine ganz wichtige Funktion haben und
in der Hierarchie möglicherweise höher angesiedelt sein als der
Logistik- oder Einkaufsleiter. Zusätzlich wird es dann
Unterstützerfunktionen wie den Produktbereitstellungsprozess geben. Der
klassische Einkauf zerfällt in den strategischen Einkauf und diejenigen
Funktionen, die die Abläufe überwachen. Dazu müssen im Unternehmen
Mehrliniensysteme aufgebaut werden, mit allen dazugehörigen
Schwierigkeiten.
CW: Was empfehlen Sie Unternehmen, die ein SCM aufbauen, im Umgang mit Partnern?
Wildemann:
Sie sprechen das Schreckgespenst „gläserner Zulieferer" an. Ich glaube,
dass es ein legitimes Interesse ist, die gesamte Wertschöpfung zu
verbessern und Einblick in Kapazitäten und Bestände zu erhalten, wenn
sie dezidiert für einen Kunden sind. Es ist auch in Ordnung, einen
Überblick über die Qualitätsstandards zu bekommen. Ich bin mir
allerdings nicht sicher, ob man eine Kostentransparenz mitliefern muss,
etwa eine mögliche Preisspanne. Das wird von den Mächtigen natürlich
gleich mit eingefordert. Um Vertrauen zu schaffen, müssen alle
Beteiligten zunächst Erfahrungen sammeln. Ein Beispiel: In
Einkaufsprojekten haben wir im vergangenen Jahr mit Hilfe von Auktionen
die Beschaffungskosten über alle Produkte hinweg um rund dreizehn
Prozent gesenkt. Bei früheren Projekten waren wir froh, wenn wir fünf
Prozent geschafft haben. Das wird natürlich nicht immer und auch nicht
auf Dauer gelingen, soll aber zeigen, dass es sich lohnt, sich
rechtzeitig mit neuen Konzepten auseinander zu setzen. Schnelligkeit
ist angesagt. Das gilt auch für SCM. Den Vorsprung, den man sich durch
rasches Handeln erarbeitet, holen die Mitbewerber nur schwer wieder auf.
CW: Sollen Mittelständler sich in eine Supply Chain hineinbegeben?
Wildemann:
Wenn es für einen wichtigen Kunden ist, ja. Aber man sollte nicht jede
Bedingung akzeptieren. Gerade kleinere Unternehmen habe dadurch die
Chance, sich in eine gute Ausgangsposition für Folgeaufträge zu
bringen. Mit SCM kann man die Kostenreduktion erreichen, die
Innovationsrate ist hoch und die Kundenzufriedenheit lässt sich
steigern.
Um die betriebswirtschaftlichen Wirkungen von SCM zu erfassen und dies mit einem IT-Tool zu unterstützen, führen wir ein Forschungsprojekt mit den Unternehmen Audi, Bosch EW, Novem, Schuh-Union, SAP, debis und Lipro durch. Daneben findet mit den Unternehmen dm Drogeriemarkt, Wella, Deutsche Post, Hoppe, Josef Müller-Spedition, Spedition Steinle, Internationale Spedition. und Häring Service Company ein Arbeitskreis zum Thema „Electronic Logistics" statt. Die erarbeiteten Tools, Vorgehensweisen und Benchmarks fließen in unsere Beratungsprojekte ein, die wir in Industrie- und Handelsunternehmen umsetzen. Die Konzepte stellen wir im Seminar „Electronic Logistics" vom 7. bis 9. März 2001 zusammen mit 8 richtungweisenden Fallstudien aus verschiedenen Branchen vor (Informationen unter E- und M-Logistik).
In der Praxis erfährt E-KANBAN als Monitoring System über die ganze Wertschöpfungskette mit großen Erfolgen eine Renaissance. Die Einführung der Kapitalverzinsung als Steuerungskriterium in den Unternehmen führt zu erneuten Bemühungen, das Umlaufvermögen zu reduzieren und die Bilanz zu verkürzen. Hierzu bieten wir ein "Bestände-Halbe-Konzept" unter Einbeziehung von logistischen Dienstleistern an.
- Wertsteigerung von Unternehmen: Mit welchen Methoden?, ISBN: 3-934155-68-5
- Supply Chain Management (Leitfaden), ISBN: 3-931511-42-1
- E-Technologien - Wertsteigerung durch E-Technologien im Unternehmen (TCW-report), ISBN: 3-934155-05-7
- E-Technologien (Leitfaden), ISBN: 3-934155-36-7
- Efficient Consumer Response (Leitfaden), ISBN: 3-931511-20-0
- Advanced Purchasing (Leitfaden), ISBN: 3-934155-38-3
- Electronic Sourcing (Leitfaden), ISBN: 3-931511-96-0
- Supply Chain Management (Buch), ISBN: 3-931511-48-0
- Logistik Prozess-Management (Buch), ISBN: 3-931511-17-0
Die Erfolge der Mercedes-Benz-Pkw-Sparte der DaimlerChrysler AG, die mittlerweile den zweiten Platz der Kfz-Zulassungsstatistik in Deutschland erobert hat, zeigen in eindrucksvoller Weise, dass die Kundenorientierung nicht erst bei dem fertigen Produkt anfängt. Vielmehr muss sie bereits bei der Generierung von Neuproduktideen beginnen, durch eine frühzeitige Identifikation von Kundenanforderungen.
Deutsche Unternehmen investierten jährlich annähernd 60 Milliarden Mark (30,7 Mrd. Euro) in die Weiter- und Neuentwicklung ihrer Produkte. Auch wenn von einem Zusammenhang zwischen den Innovationsaktivitäten und der Umsatzrendite von Unternehmen ausgegangen werden kann, entscheidet letztendlich allein der Kunde über den Absatzerfolg eines neuen Produktes. Die Berücksichtigung der "Stimme des Kunden" ist mithin der wesentliche Erfolgsfaktor in der Entwicklung und Konstruktion von Neuprodukten und darf keinesfalls auf den After-Sales-Service beschränkt bleiben. Denn nur auf diese Weise kann frühzeitig eine Deckungsgleichheit erzielt werden von Produktideen und den tatsächlich durch den Kunden wahrgenommenen Produkteigenschaften sowie der technischen Ausgestaltung des Neuproduktes. Für Unternehmen wird es immer wichtiger, das beim Kunden vorhandene Wissen kontinuierlich zu erschließen und in konkrete Produktmerkmale zu überführen.
Trotz der Einführung eines "intelligenten Übersetzers", der die Sprache des Kunden in die des Produktentwicklers übersetzt, treten jedoch immer wieder Divergenzen zwischen der konkreten Ausgestaltung des Produktes und den tatsächlichen Kundenanforderungen auf. Die Problematik beginnt mit der Auswahl der einzubeziehenden Kunden. Die Dauer der Kundenbindung oder der Kapitalwert des Kunden reichen allein nicht aus, um eine Auswahl von Kunden zu treffen. Diese Größen sind lediglich die Resultierende aus dem bestehenden Produktprogramm, ohne dass sie eine Bewertung des Kunden hinsichtlich seines potenziellen Beitrags zur Weiter- und Neuentwicklung von Produkten ermöglichen. Kunden sollten nur dann in den Entwicklungsprozess einbezogen werden, wenn sie Träger von Innovationen sind und somit einen bestimmten "Wert" für das Unternehmen besitzen.
Zur Erschließung der Innovationskraft der Kunden sind insbesondere die potentiellen, also die noch nicht akquirierten Kunden, von höchster Relevanz, die zur Zeit noch Konkurrenzprodukte kaufen. Um sich auch dieses Innovations-Know-how zu erschließen, ist es erforderlich Netzwerke zu bilden, die einen schnelleren Zugang zu den relevanten Informationen erlauben. Im Zusammenhang mit den Überlegungen zur Netzwerkbildung stehen auch die Grundfragen zur strategischen Ausrichtung des Unternehmens an der Schnittstelle zwischen Customer Relationship Management (CRM) und Konstruktion und Entwicklung. Häufig wird eine "demand pull"-Strategie, also die Initiierung von Entwicklungsaktivitäten durch den Kunden, als geeigneter angesehen. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass dies in erster Linie für die kontinuierliche Weiterentwicklung bestehender Produkte gilt. Demgegenüber sind durch einen "Technology-push" latente Bedürfnisse potenzieller Kunden durch die Entwicklung neuer Technologien zu wecken. Die Hauptaufgabe des "intelligenten Übersetzers" muss es demnach sein, bei der Produkt-Vorentwicklung die wesentlichen Problemstellungen und Anregungen auch seitens potenzieller Kunden nicht nur zu selektieren, sondern auch deren Anforderungen an die Neuproduktgestaltung zu definieren. Der intelligente Übersetzer muss demnach die beiden strategischen Grundausrichtungen optimal abstimmen: Neben einer frühzeitigen Identifikation technologischer Trends bildet das Erkennen derzeitiger Kundenbedürfnisse anhand der Kundenzufriedenheitsurteile die Ausgangsbasis für die Produktentwicklung.
Entsprechend der im CRM angestrebten Ausrichtung der Unternehmensorganisation auf die vorhandenen und potenziellen Kundenbeziehungen gehören auch die Konstruktions- und Entwicklungsprozesse in den Unternehmen auf den Prüfstand. Um diese konsequent auf die Erschließung und Integration des Erfahrungswissens der Kunden auszurichten, müssen am Ende einer jeden Prozessphase Quality Gates eingerichtet werden. Diese ermöglichen das systematische Vorgehen im Management der Innovationen von Kundenseite. Das erfordert die Schnittstellen zwischen Kunden, Marketing und Entwicklungsabteilung neu zu gestalten. Darüber hinaus muss die "Übersetzerinstanz" im Rahmen des Entwicklungsprozesses konkret definiert werden. Hier stellt sich die Frage, wo dieser Übersetzer organisatorisch im Unternehmen angesiedelt werden muss, und vor allem wer die Transferleistung zu bewerkstelligen hat. Führt man sich die hohe Abbruchrate an Produktentwicklungsprojekten vor Augen, so muss dieser Übersetzer zwangsläufig aus einem interdisziplinären Team bestehen, das alle Sichten der Produktentwicklung berücksichtigen kann sowie über fundierte Kenntnisse des Marktes und der bestehenden und potenziellen Kunden verfügt.
Vor diesem Hintergrund ist auch die Rolle des klassischen Marktforschers im Unternehmen kritisch zu durchleuchten. Bislang zeichnete oft ein mangelndes Vertriebs- und Management-Know-how der Marktforschung für die Verabschiedung nicht-realisierbarer Konzepte verantwortlich. Verschärfend kam eine zögerliche Implementierung und Umsetzung der Marktforschungsergebnisse seitens der Unternehmensführung hinzu. Zukünftig gilt es, die Marktforschung vollständig und kontinuierlich in die laufenden Produktentwicklungsprozesse zu integrieren, um für die Übersetzung der Stimme des Kunden einen wertvollen Support zu liefern. Letztendlich muss man dem Customer-Relationship-Management durch eine kundenorientierte Sichtweise über die gesamte Unternehmensorganisation Rechnung tragen.
Die Tools des Customer-Relationship-Management werden im Leitfaden
Wildemann H.: Innovationsmanagement, Leitfaden zur Einführung eines
effektiven und effizienten Innovationsmanagement, ISBN: 3-931511-94-4
,2. Aufl., TCW-Verlag, München 2001 ausführlich anhand von Charts und Checklisten aufgezeigt und bilden so eine Anleitung zur unmittelbaren Umsetzung.
Weiterführende Literatur: